Aus den Anfängen

Die wissenschaftliche Vererbungslehre beginnt, wie allgemein bekannt, mit den beiden Vorträgen von Johann Gregor Mendel am 8. Februar und 8. März 1865 in Brünn über seine „Versuche über Pflanzenhybriden“. Auch die Wiederauffindung dieser Veröffentlichung im Jahre 1900 geschah im deutschen Sprachraum. Von den drei Wiederentdeckern verfolgte Tschermak das Gefundene überwiegend für Anwendungen auf praktische Züchtungszwecke, während de Vries, wie man seinen bereits 1901 und 1903 in Leipzig erschienen zwei Bänden zur „Mutationstheorie“ entnehmen mag, mehr an der Veränderlichkeit der Erbanlagen als, wie Mendel, an deren Konstanz interessiert war. Somit war es vor allem Carl Correns, der der wissenschaftlichen Vererbungslehre ihr erstes Gesicht gab. Aber seine Publikationen waren so esoterisch deutsch, dass sie nur unter Fachgelehrten diskutiert wurden. Und die von ihm entwickelte, erste umfassendere Terminologie war gleichfalls wenig eingängig und allenfalls einem Deutschen verständlich. So wurde die Öffentlichkeit auf das neue Forschungsgebiet durch andere, als Erstem durch den Engländer William Bateson, aufmerksam gemacht. Dessen enthusiastische Vorträge stießen weltweit, in Amerika wie in Australien, auf großes Interesse. Es war seine Terminologie, die sich schnell einbürgerte und die Correns’schen Begriffe verdrängte.

 

Die Zählung der internationalen Kongresse für Vererbungswissenschaft beginnt mit der „International Conference on Hybrizization and Plant Breeding“ 1899 in London. Diese wurde von der Royal Horticultural Society organisiert, als eine Vererbungswissenschaft eigentlich noch gar nicht existierte. Nicht viel anders war es mit der zweiten Tagung, welche auf Einladung der Horticultural Society of New York 1902 in New York abgehalten wurde und wo die Erkenntnisse Mendels noch zu neu waren, als dass sie schon in weite Züchterkreise Eingang gefunden hätten. 1906 lud die Royal Horticultural Society abermals zu einer „International Conference on Hybridization and Plant Breeding“ nach London ein. Auch dieses Mal dominierten noch die Vorträge über neue Blumensorten, und der Tagungsbericht ist reich an Abbildungen hübscher Orchideen und Nelken, prächtiger Gladiolen und Rosen, Primeln und Narzissen. Aber William Bateson konnte als Präsident in seiner Begrüßungsrede darauf hinweisen, dass das Programm dieses Gartenbaukongresses erstmalig Vorträge über Vererbungsversuche an Mäusen, Kaninchen und Hühnern einschloss. Er betonte, dass sich inzwischen eine ganz neue Wissenschaft zu entwickeln begonnen hatte, für die er an dieser Stelle erstmals den Begriff „Genetics“ vorschlug („which sufficiently indicates that our labours are devoted to the elucidation of the phenomena of heredity and variation“). Zum ersten wirklichen Kongress für Genetik wurde dann die „IVe Conférence de Génétique“ im Jahre 1911 in Paris. Zwar stand auch sie unter dem Patronat der Société Nationale d’Horticulture de France. Aber Vorträge aus dem Gebiet des reinen Gartenbaus enthielt das Programm kaum noch, und zu der Erbanalyse an Versuchspflanzen waren als Objekte Tiere und als neues Objekt auch der Mensch hinzugekommen.

 

Auf die Tagung in Paris sollte ein internationaler Kongress in Berlin im Jahre 1916 folgen. Der Erste Weltkrieg machte diesen Plan zunichte, und es dauerte 16 Jahre, bis ein neuer Kongress zustande kam. Diesen organisierte die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft auf Veranlassung von Erwin Baur und unter seinem Vorsitz 1927 in Berlin. Inzwischen war die Genetik weltweit fest etabliert, so dass der „V. Internationale Kongress für Vererbungswissenschaft“ (sic!), wie den beiden Supplementbänden mit den „Verhandlungen“ in der Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre zu entnehmen ist, in seinem Programm eine Reihe epochaler Entdeckungen öffentlich machen konnte: Genetics of Datura (Blakeslee), Über nichtmendelnde Vererbung (Correns), The problem of genetic modification (H.J. Muller, CLB Drosophila) oder Geographische Genzentren unserer Kulturpflanzen (Vavilov). Andererseits war im Rückblick bereits erschreckend eindeutig unter anderen der Vortrag von A. Thomsen, Professor des Strafrechts in Münster/Westf., über „Die Bildung von Völkerkeimen zur Erhaltung und Mehrung wertvoller Erbanlagen“. Offensichtlich grassierten derartige Ansichten zur Humangenetik zu jener Zeit nicht nur in Deutschland, wenngleich hier nach 1933 der Rassismus zur satanischen Perfektion geführt wurde.

 

Institutionell war die Genetik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland ziemlich schmal aufgestellt. Die genetischen Forschungsergebnisse der entsprechend tätigen Wissenschaftler wurden weitgehend im Rahmen der Deutschen Botanischen bzw. der Deutschen Zoologischen Gesellschaft vorgetragen und diskutiert. Für die Vererbungslehre speziell ausgewiesen waren nur das 1915 in Berlin gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie (erster Direktor Carl Correns, weitere Abteilungsleiter Fritz von Wettstein, Richard Goldschmidt und Max Hartmann) und das 1928 von Erwin Baur gegründete KWI für Züchtungsforschung. Ausbildungs- und Forschungsstätten an den deutschen Hochschulen entwickelten sich nur insoweit, als ein wissenschaftlich als Botaniker oder Zoologe ausgewiesener Lehrstuhlinhaber auch an genetischen Fragen interessiert war und diese in seine Lehraufgaben einbezog. Nach 1933 wurden in Deutschland an fast allen Universitäten Lehrstühle für Rassenhygiene (und menschliche Erblehre) eingerichtet, aber kein einziges Institut für Genetik neu gegründet. Schließlich ging mit dem „Dritten Reich“ zwangsläufig auch die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft unter.

 

Bis heute kaum vorstellbar ist die Rücksichtslosigkeit, mit der die Genetik in der NS-Zeit in breitem Maße für die politischen Ziele ausgenutzt wurde. Entsprechend kritisch war nach dem Kriegsende die Haltung der Fachkollegen im Ausland. Friedrich Oehlkers berichtete mir diesbezüglich von seinen Erfahrungen auf dem Int. Genetik-Kongress 1948 in Stockholm, auf dem er mit den wenigen deutschen Teilnehmern bei zahlreichen Veranstaltungen und Besichtigungen in einer separaten Gruppe von den übrigen Teilnehmern getrennt geführt wurde. Umso bemerkenswerter für mich ist die Tatsache, die für das hohe Ansehen der klassischen Anfangszeit der Vererbungslehre in Deutschland sowie sicherlich auch einiger von der NS-Ideologie unbelasteter deutscher Genetiker spricht, dass die International Genetics Federation schon auf dem 9. Kongress in Bellagio, Italien, unter dem Präsidium Richard Goldschmidts den Auftrag an Hans Nachtsheim und Oehlkers erteilte, den kommenden 10. Genetik-Kongress 1958 in Deutschland zu organisieren. Aber, wie ich von Oehlkers weiß, hatten sich bereits nach wenigen Monaten der Vorbereitungsarbeit bei beiden Beauftragten zwei „dicke Leitzordner voll dreckiger Wäsche“ angesammelt, so dass sie den Auftrag an die Federation zurückgaben. Der Kongress fand dann 1958 in Montreal, Kanada, statt.

 

Ein erster Versuch zur Neugründung einer Gesellschaft für Genetik in Deutschland geschah 1952 im Rahmen der Tübinger Max-Planck-Institute. Den Vorsitz hatten Max Hartmann und Wolfhard Weidel, Stellvertreter war Georg Melchers. Die Aktivitäten beschränkten sich vorwiegend auf Vortragsveranstaltungen an diesem Ort. Aber bereits 1964 schlief diese Vereinigung (aufgrund personeller Veränderungen?) wieder ein.

 

1967 fand die Jahrestagung der Deutschen Botanischen Gesellschaft in Göttingen statt. Als frisch gebackener Wissenschaftlicher Rat und Professor und Leiter der Abteilung für Cytogenetik im Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung (Dir.: Prof. Arnold Scheibe) in Göttingen lud ich bei dieser Gelegenheit die mir bekannten und genetisch interessierten Tagungsteilnehmer zu einem Gespräch am 6. September in den kleinen Hörsaal der Botanischen Anstalten ein. Viele der Anwesenden gehörten zu den Jüngeren und auf dem Gebiet der Pflanzenzüchtung tätig. Auch Georg Melchers war gekommen und ermutigte uns mit seinem Rat. Einmütig war man der Meinung, dass inzwischen in Deutschland eine neue Generation von Genetikern herangewachsen und der Versuch eines Neuanfangs an der Zeit sei. Schließlich wurde ich zusammen mit Herrn Fritz Anders, Giessen, beauftragt, die Neugründung vorzubereiten. Leider füllte sich in den Wochen danach auch bei mir ein Leitzordner wenig hilfreichen Inhalts, und bald waren Herr Anders und ich einig, dass anders zu prozedieren sei. Wir entwarfen eine Satzung, die bei vier Münchener Kollegen, die wir ansprachen, Zustimmung fand und rückten am 31. Mai 1968 mit der dafür vorgeschriebenen Mindestzahl von 7 Personen zum Registergericht des Amtsgerichts München: aus München Becker, Hofschneider, Kaudewitz (Schriftführer) und Klingmüller, sowie Anders, Giessen (Vorstand), Laven, Mainz (2. Vorsitz) und Röbbelen, Göttingen (1. Vorsitz). Auf der ersten Mitgliederversammlung 1969 in Mainz wurden wir für diese Eigenmächtigkeit heftig gerügt. Aber letztlich wurde die Satzung dann doch fast unverändert angenommen und anschließend wuchs die Zahl der Mitglieder kräftig weiter.

 

Auch wählte die Mitgliederversammlung in Mainz den ersten Vorstand der Gesellschaft mit Carsten Bresch, Freiburg (1. Vorsitz), Karl Esser, Bochum (2. Vorsitz), Fritz Anders, Giessen (Schriftführer) und Wolfgang Lueken, Giessen (Schatzmeister). Mit diesen Namen verband sich die Absicht, in der neuen Gesellschaft die Genetik in ihrer ganzen Breite zu berücksichtigen. Waren anfänglich aufgrund ihrer Entstehung etwa die Hälfte der Mitglieder Züchtungsforscher oder doch Botaniker gewesen, so brachte Bresch aus seiner Freiburger Schule eine größere Anzahl von Mitgliedern mit, die sich mit Mikroorganismen beschäftigten. Auf diese Weise diversifizierte sich das Kompetenzspektrum der Mitglieder schnell weiter. Auch in den Themen der ersten Jahrestagungen spiegelte sich der neue Ansatz wieder: Die Rolle der Genetik in Kulturpolitik und Wissenschaft (Mainz 1969), Genetik der Antibiotika-Resistenz (Mainz 1970), Pflanzengenetik, neue Techniken und Zuchtmethodik (Göttingen/Duderstadt 1971) und Frühdiagnose menschlicher Krankheiten (Freiburg 1972). Die unter Bresch stark Öffentlichkeits-orientierten Tagungsthemen der Gesellschaft öffneten sich unter den nachfolgenden Vorsitzenden Hofschneider, München (1972-1977), Röbbelen (1977-1979), Bautz, Freiburg (1979-1981) und Abel, Hamburg (ab 1981) sachgemäß in die gesamte Breite, die die Genetik als zentrale biologische Wissenschaft bis heute zunehmend erfolgreich versieht.

 

Prof. Gerhard Röbbelen, Göttingen