Genetik

Genetik, die „Wissenschaft von der Erzeugung“, beschäftigt sich mit der Weitergabe und Realisation der Erbinformationen, wie sie in der Nukleinsäure-Sequenz festgelegt ist. Die Fragestellungen der Genetik gehen also von der Aufklärung der Regeln und Mechanismen der Vererbung aus. Heute hat die Genetik aber darüber hinaus auch das Ziel, die Unterschiede in der genetischen Gesamtausstattung verschiedener Organismen funktionell zu erklären (Genomforschung). Die wesentlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Organismen sind offensichtlich erblich festgelegt, da sie sich mehr oder weniger unverändert auf die folgenden Generationen übertragen werden. Eine besondere Dynamik gewinnt die Genetik heute zusätzlich aus der Möglichkeit, auch das Erbgut bereits ausgestorbener Arten zu untersuchen und so einen genetischen Beitrag zur Evolutionslehre zu leisten.

 

Andererseits unterscheiden sich aber auch die einzelnen Individuen innerhalb einer Organismengruppe voneinander. Diese Unterschiede reflektieren kleinere Variationen in der genetischen Gesamtausstattung und führen z.B. zu unterschiedlichen Antworten bestimmter Individuen auf Umweltreize oder unterschiedliche Anfälligkeit für Krankheiten. Die Frage nach der individuellen Variabilität lässt sich experimentell überprüfen und ist Gegenstand genetischer Forschung.

 

Damit steht die Genetik im Schnittpunkt anderer biologischer Disziplinen (wie Zellbiologie, Entwicklungsbiologie oder Molekularbiologie) und beeinflusst mit ihren methodischen Ansätzen diese Bereiche. Als universelle biologische Disziplin findet sie außerdem in allen Organismenklassen Anwendung, bei Mikroorganismen (z.B. Bakterien und Hefen) genauso wie bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Gerade in den letzten Jahren war die Genetik wesentlich daran beteiligt, neue Technologien zu schaffen, die unter den Stichworten der Gen- bzw. Biotechnologie zusammengefasst werden können.

 

Die rasante Entwicklung der Genetik in den vergangenen 100 bis 150 Jahren hat natürlich auch zu verschiedenen Subdisziplinen geführt, die allerdings heute wieder zunehmend zusammen finden. Als erstes müssen wir dabei die klassische Genetik nennen, die sowohl die Grundelemente der Vererbung (und deren materielle und räumliche Manifestation) erforscht als auch die Mechanismen der Verteilung des Erbmaterials bei der Zellteilung (wobei hier schon wieder die Abgrenzung zur Cytogenetik schwierig wird, die sich vor allem mit der Untersuchung der Chromosomen beschäftigt). Die klassische Genetik ist in vielen Bereichen sehr mathematisch-statistisch orientiert; methodisch ähnlich ist die Populationsgenetik. Sie umfasst Erkenntnisse von genetischen Regeln, die für Gruppen von Individuen gelten, und wie sie sich auf die Zusammensetzung der Populationen und die Evolution der Organismen auswirken. Sie trägt wesentlich zum Verständnis von Wanderungsbewegungen und von genetischen Austauschen von Populationen bei. Sie ist Bestandteil der Evolutionsgenetik, die aber auch den Vergleich von Genen und Genome verschiedener Organismen nutzt, um evolutionäre Verwandtschaftsbeziehungen aufzuklären.

 

Die molekulare Genetik untersucht die biochemischen Grundlagen der Vererbung. Sie will wissen, wie das Erbmaterial molekular aufgebaut ist und wie es in einer Zelle und im Gesamtorganismus seine Funktion ausübt. Die hohe Komplexität der Vorgänge hat auch in diesen Feldern zu einer immer stärkeren Mathematisierung geführt und damit zur Entwicklung neuer Teildisziplinen wie Bioinformatik und Systembiologie. Fragen, die sich auf die genetischen Mechanismen der Zelldifferenzierung und der Embryonalentwicklung von Organismen beziehen, werden der Entwicklungsgenetik zugerechnet. Die Methoden in der Humangenetik unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von denen, die an Tieren und Pflanzen erprobt und gängig sind, daher erscheint diese Teildisziplin – auch wegen ihrer Nähe zur Medizin, ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ethischen Brisanz – herausgehoben. Besonders interessant ist die Verhaltens- und Neurogenetik, die in den letzten Jahren dank eines verbreiterten Methodenspektrums sehr große Fortschritte gemacht hat (bei Würmern, Fliegen, Fischen und Mäusen – und zunehmend auch beim Menschen).

 

Ein spannendes Teilgebiet genetischer Forschung beschäftigt sich mit der Untersuchung epigenetischer Prozesse – also biochemischen Modifikationen des Erbmaterials, die oft auch über Generationen weitergegeben werden können, ohne dass die DNA-Sequenz dabei geändert wird. Dabei spielen auch Einflüsse der Umwelt auf die Realisation genetischer Information eine wichtige Rolle. Diese Interaktion zwischen Genetik und Umwelt rückt durch die Entwicklung entsprechender Untersuchungsstrategien (systematische Untersuchung von Modellorganismen und ihrer Mutanten unter variablen Umweltbedingungen) zunehmend in den Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses.

 

Die Genetik spiegelt – wie andere Wissenschaften auch – gesellschaftliche Entwicklungen wider; sie ist damit auch nicht frei von Verirrungen. Dies lässt sich in der Rückschau für die Vergangenheit oft leichter erkennen als für die Gegenwart. Ein Beispiel ist Eugenik; Vertreter dieser Richtung wollen die erbliche Weitergabe von Genmodifikationen vermeiden, die Erbkrankheiten verursachen, um eine angebliche „Verschlechterung des menschlichen Genpools“ zu verhindern und umgekehrt die Weitergabe „günstiger“ Genformen zu unterstützen, um dadurch den menschlichen Genpool zu „verbessern“. Vorbehalte gegenüber allen Formen genetischer Diagnostik beim Menschen haben in der Erinnerung an den Holocaust und an die Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens ihre historischen Wurzeln und wirken noch heute nach (z.B. bei der Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik).

 

Ein anderes Problem ist die These von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften, die immer wieder in der gesellschaftlichen Diskussion auftaucht. Im historischen Beispiel ging es zunächst nur um die  dringend benötigte Verbesserung der Pflanzenzucht in der Sowjetunion vor dem 2. Weltkrieg. Die politische Führung bezeichnete die Genetik in der Sowjetunion als eine „schädliche Perversion der Wissenschaft“, die „die Bemühungen der sowjetischen Forscher behindert, die Tier- und Pflanzenwelt zu verändern“. Diese Position wurde nach dem Ende des 2. Weltkrieges auch in der DDR durchgesetzt: genetische Forschung wurde verboten, Labore geschlossen und unbequeme Wissenschaftler entlassen und verfolgt. Diese Haltung änderte sich erst nach 1962.

Heute steht die Genetik nach dem Abschluss des Humangenomprojekts und der immer schneller und billigeren Möglichkeiten, genetische Informationen bei Mikroben, Pflanzen und Tieren (und auch einzelner Individuen) zu entschlüsseln, vor neuen Herausforderungen. Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass die Genetik heute die zentrale biologische Teildisziplin ist und in Bezug auf die Bedeutung und Brisanz ihrer Ergebnisse mit der Kernphysik verglichen werden kann.